Editorial
Wir erleben gerade, dass die Konflikte um Verteilung und Herstellung von Eigentum nach einer langen Periode der Unsichtbarkeit wieder zunehmend gesellschaftliche Debatten prägen. Auf den Wegfall des Realsozialismus folgte in den 1990er-Jahren ein Burgfrieden, der erstmals von der globalisierungskritischen Bewegung in Frage gestellt wurde; nicht zuletzt mit Blick auf dasjenige Privateigentum, das der globale Norden auf Kosten des globalen Südens ansammelte. Heute steht ausser Frage, dass der Kapitalismus in globaler Dimension negative soziale, ökologische, ökonomische, kulturelle und mentale Folgen hat. In den letzten Jahrzehnten hat die Einkommens- und Vermögensungleichheit weltweit zugenommen. Auch in Europa sind längst nicht mehr nur prekarisierte Bevölkerungsteile negativ von deregulierten Finanzmärkten, Massenarbeitslosigkeit, Unterfinanzierung von Sozial- und Bildungssystemen, Steuerschlupflöchern und regressiven Steuerpolitiken betroffen.
Vor diesem Hintergrund ist es der Berliner Mieter*innenbewegung gelungen, eine über Deutschland hinaus wirkende Debatte um Privateigentum und Enteignung zu entfachen. Die Kampagne «Deutsche Wohnen und co. enteignen» will in Berlin mittels Volksbegehren die Wohnungen der grossen Immobilienkonzerne vergesellschaften. Nach Jahren der Immobilienspekulation und explodierender Mieten ist das eine Notwendigkeit, die zum einen zeigt, wie zumeist anonyme Player auf den Kapital- und Immobilienmärkten in konkreten Schritten zurückgedrängt werden können. Zum anderen ruft die Kampagne in Erinnerung, dass Eigentum und Besitz keine natürlichen, sondern – aus historischer Perspektive – relativ offene und bewegliche Konzepte darstellen. Menschen verschiedener Epochen, Kulturen und Regionen pflegten unterschiedliche Formen des Besitzens, Teilens und Austauschens. Zudem ist Enteignung keineswegs eine Strategie, die – wie das Grundrauschen der Leitmedien vermittelt – allein auf soziale Kämpfe von unten gegen oben zielt. Das Umgekehrte ist genauso wahr: Enteignung stellt eine alltägliche Praxis und ein Charakteristikum des Kapitalismus dar. Vor diesem doppelten Hintergrund diskutiert das Widerspruch Heft 75 «Enteignung» als Auseinandersetzung zwischen kapitalistischen und nichtkapitalistischen Wirtschaftsprämissen, als Spannungsfeld zwischen emanzipatorischen Widerstandsstrategien und territorialer sowie ökonomischer Annexion und Privatisierung. Denn eine der wesentlichen Fragen lautet, wer enteignet eigentlich wen?
Karl Marx hat analysiert, wie der Kapitalismus in England über die Enteignung der Bäuer*innen von ihrem Grund und Boden aus dem Feudalismus hervorgegangen ist. Die «Enclosures of the Commons» haben das Gemeingut Boden zur Quelle des Kapitals werden lassen und Bäuer*innen von ihren Produktionsmitteln getrennt und zu landlosen, «doppelt freien» Arbeiter*innen gemacht, die nun gezwungen waren, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Rosa Luxemburg definierte später diesen Prozess der «politischen Gewalt» und «primitiven Akkumulation» als elementaren Bestandteil des Kapitalismus. In jüngster Zeit wandte David Harvey die «Akkumulation durch Enteignung» auf den Neoliberalismus an und beschrieb die Privatisierung von staatlichem Eigentum und Sozialwerken respektive die Spekulation mit Boden und Wohnraum durch globale Immobilienfonds als Enteignungspraktiken. Silvia Federici wiederum verknüpft die Landnahme und die Prozesse der «Enclosures» mit der Aneignung des weiblichen Körpers und der unbezahlten Sorgearbeit.
Im vorliegenden Heft beziehen sich diverse Artikel kritisch auf diese theoretischen Ansätze, um die Entstehung von Eigentum der einen und die kausal damit verbundene Enteignung der anderen zu analysieren (Gelinsky; Herrigel; Kellermann; Liepold; Schutzbach; Siegl). Begleitet wurden und werden diese Prozesse stets von Diskursen, die Enteignung und Plünderung moralisch und philosophisch legitimieren (Peter; Marti-Brander). Denn die Plünderer sollen mit ruhigem Gewissen schlafen können - was freilich nicht verhindert, dass sich Legitimierungsdiskurse regelmässig in Widersprüche verstricken.
Mit den neuen Technologien werden Enteignungssformen in den Arbeitsprozessen weiter vorangetrieben. Die konstante Überwachung zwecks Optimierung der Arbeitsabläufe führt beispielsweise zu fortlaufender Enteignung bisher zumindest ansatzweise noch existierender individueller Gestaltungsmöglichkeiten im Arbeitsprozess. Menschen werden noch umfassender an die Maschine oder den Algorithmus gekoppelt (Akman / Scheer; Weber), oft ohne die Möglichkeit, die zugrunde liegenden Parameter zu beeinflussen. Brisant bleibt dabei die alte Frage nach dem Umgang mit den neuen Technologien, gerade unter dem Aspekt, dass wir im Alltag bereits umfassend mit und in ihnen leben (Smartphone, Online-Versandhandel etc.). Neben (gewerkschaftlicher) Organisierung ist es deshalb wichtig, auch die Schnittstelle der Mensch-Maschine-Koppelung daraufhin zu untersuchen, ob und welche Möglichkeiten ihre Aneignung für Selbstbestimmung bietet (Weber).
Inspiration in Bezug auf das Mögliche bietet nicht zuletzt die Literatur, besonders das Genre der Science-Fiction: Es schärft die Vorstellungskraft und diskutiert Situationen, nach denen im Normalfall nicht gefragt wird (Scolari). Dass dieses Feld, wo Möglichkeiten diskutiert und Gegebenes reflektiert wird, häufig von prekären Verhältnissen geprägt ist, ist indessen kein Zufall, sondern unter anderem den Entwicklungen auf dem Buchmarkt geschuldet (Klebs).
Enteignung stellt eine komplexe soziale Kategorie dar, die auf zahlreichen juristischen und ökonomischen Setzungen beruht. Prägnant zeigt sich dies in Boden- und Wohnungsfragen sowie in den Kämpfen um den öffentlichen Raum (Aebi / Gehriger; Hänggi; Liepold; Scherr). Das vorliegende Heft beschränkt sich jedoch nicht auf diesen Bereich. Bewusst wurde eine möglichst offene Perspektive gewählt, um Enteignung als vielschichtiges Phänomen zu diskutieren. Dazu gehört auch die Enteignung der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus, von der sehr viele Einzelpersonen, die NSDAP und die Staatskasse profitierten (Stengel). Aus dieser Form der Enteignung lässt sich auch ableiten, wo linke Enteignungs- und Vergesellschaftsungsformen im Gegensatz zu totalitär-rechten Enteignungspraktiken ansetzen sollten: Nicht beim persönlichen Eigentum oder einzelnen Menschen, sondern bei den Produktionsmitteln, dem Boden, dem Verkehr, dem Handel und dem gesellschaftlichen Wissen. Bei jenen Stellschrauben also, die von vielen benötigt und hergestellt werden, die gegenwärtig aber in den Händen weniger sind und zu einer enormen Kumulation von ökonomischer und gesellschaftlicher Macht führen.
Enteignung bezeichnet sowohl die kapitalistische Praxis, über Gewalt, Privatisierung oder Handelsverträge kommunalen Besitz in Privateigentum umzuwandeln; sowie die antikapitalistische Praxis, die auf die Vergesellschaftung von ökonomischen Bereichen und von Privateigentum setzt. Daran schliesst die vieles entscheidende – und auch in diesem Heft nur unzureichend diskutierte – Frage an, wie man die Enteigner*innen enteignet. Dass Enteignungskämpfe zum gegebenen Zeitpunkt immer noch primär von oben geführt werden, widerspiegelt sich auch im Verhältnis der vorliegenden Artikel, die auf der Seite der Kämpfe und Zukunftsvorstellungen von Selbstermächtigung und anderen Eigentumsverhältnissen noch eher dünn ausfallen (Hänggi; Kellermann; Komposch; Mühlebach; Notz; Schneider). Jedoch ist es ein Anfang, wenn es gelingt, das Enteignungsthema auf der politischen Agenda weiter nach oben zu rücken. Dazu will das Widerspruch Heft 75 beitragen.
Die Redaktion, im August 2020