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#74

Der Frauen*streik vom 14. Juni 2019 war ein riesiger Erfolg, mitunter die grösste politische Mobilisierung seit dem Generalstreik 1918. Über 500 000 Menschen, überwiegend Frauen*, waren auf den Strassen, in allen Landesteilen und Sprachregionen, in den grossen Städten und selbst in kleineren Gemeinden auf dem Land. Dutzende von Komitees organisierten die Mobilisierungen, unterstützt von Gewerkschaften und linken Organisationen und Parteien.

Frauen* mobilisieren und organisieren aber nicht nur, sie beschreiben, theoretisieren, re ektieren und ordnen diese und andere Erfahrungen auch ein. Für das vorliegende Heft 74 lud die Redaktion Aktivistinnen* zu einer of- fenen Redaktionssitzung ein. In der Diskussion kristallisierten sich zwei Themenblöcke heraus: Fragen zur Organisierung und Mobilisierung sowie zu feministischer Wirtschaftspolitik. Der Heterogenität der Bewegung entsprechend sind in Widerspruch 74 sowohl Artikel eingeflossen, die von unmittelbaren Erfahrungen ausgehen, als auch solche, die einen theoretischen Ansatz verfolgen. Einzugestehen bleibt jedoch, dass das Heft urban bleibt und die Ausweitung auf den ländlichen Raum auch für uns eine Heraus- forderung ist. Das ist bedauerlich, betreten doch Themen wie die Krise der sozialen Reproduktion Stadt- und Landbevölkerung gleichermassen. Wer feministische wissenstheoretische Prämissen ernst nimmt, sollte den Frauen*streik bei aller berechtigten Euphorie ohnehin auf keinen unhinterfragbaren Sockel stellen. Denn auch dies bleibt einzugestehen: Auch feministische Aktivist*innen sind letztlich in dieser Gesellschaft sozialisiert und müssen auch in den eigenen Reihen gegen Diskriminierungsformen ankämpfen.

Sprachkritik wurde in den letzten Jahren intensiv und längst nicht mehr nur in der feministischen Ö entlichkeit diskutiert. Zwar gibt es eine objektive Realität, die sich nicht darum kümmert, wie wir sie bezeichnen, doch existiert gesellschaftliche Wirklichkeit nicht ohne Sprache. Sprachli- che Diskriminierung – etwa die Spaltung in wertvolle und weniger wertvolle Menschen – kann, wie der Blick in die Geschichtsbücher zeigt, sehr schnell zur gesellschaftlichen Wirklichkeit werden. Sprachkritik ist daher keine äs- thetische Frage, sondern Teil der Auseinandersetzung um gesellschaftliche Verhältnisse. So widerspiegeln die unterschiedlichen Formen zur Bezeichnung der Geschlechter – grosses Binnen-I, Gender-Sternchen, Akronyme et cetera – unterschiedliche feministische und geschlechtertheoretische Posi- tionen, die den Frauen*streik in seiner Vielfalt bereicherten. Als Orientierungshilfe dient im Anschluss an das Editorial ein Glossar zum (queer-) feministischen Sprachgebrauch.

Wesentliche Impulse erhielt der Frauen*streik auch von internatio- nalen feministischen Bewegungen, die – anders als in der Schweiz – für einen Streik am 8. März, dem Internationalen Frauentag, mobilisierten. Kämpferische Berichte und Bilder aus Polen, Lateinamerika, Spanien oder dem Baskenland inspirieren und zeigen, dass Veränderung möglich ist – sei es in Bezug auf Lohnungleichheit, Geschlechterhierarchien, Sexismus oder Gewalt gegen Frauen*. Was kontinuierliche Organisierung bewirkt, zeigt auch die kurdische Frauen*bewegung. Sie existiert nicht erst seit dem Kampf um Rojava, sondern arbeitet seit den 1970er-Jahren an weiblicher Ermächtigung.

Was alle Bewegungen und Beiträge in diesem Heft eint, ist die Wichtig- keit von weiblichen Netzwerken. Sie dienen dazu, Fürsorgearbeit, Lohn- arbeit und politisches oder gewerkschaftliches Engagement unter einen Hut zu bringen, aber auch, um sich gegenseitig Mut zu machen, als Bewegung zu wachsen und sich als einzelne weiter zu entwickeln. Was frau allzu oft das Leben erschwert – nämlich auf tausend Baustellen gleichzeitig zu buckeln –, erweist sich so unter der Hand als Potenzial feministischer Kämpfe. Denn wer in verschiedenen Bereichen lebt und aktiv ist, kann auf verschiedenen Ebenen Veränderungen anstossen: von der Arbeit bis zur Fa- milie, von der Politik bis zum Alltag und mit der Erfahrung, dass sich gemeinsam etwas bewegen lässt.

Seit dieser Nummer trägt der Widerspruch ein neues Kleid, nach 39 Jahren unverkennbarem, schickem Achtzigerjahre-Layout. Kurz vor dem 40-jährigen Jubiläum hat sich die Redaktion für ein Redesign entschieden. Es ist ein Abschied und gleichzeitig ein Aufbruch: Ein Erscheinungsbild, das auf die veränderte und jüngere Zusammensetzung der Redaktion verweist – und gleichzeitig einen Schritt vorwärts ins nächste Jahrzehnt macht. Ein Jahrzehnt, in dem das Gedeihen des Widerspruchs vorwiegend davon abhängt, dass wir unseren Abonnent*innenstamm verjüngen und erweitern können.

Das Redesign bricht mit der Tradition des Widerspruchs, ohne sie zu vergessen: Weiterhin erscheint der Widerspruch halbjährlich als emen- heft, in gewohnt wechselndem Farbumschlag und mit unverkennbarem Logo – doch mit Titelbild und Leads im Inhaltsverzeichnis. Im Innern bringt das Redesign etwas mehr Luft in die – zugegeben teils schweren – Texte. Neu sollen vermehrt auch andere Textformen wie kürzere Kommentare, Essays und Interviews Platz finden. Im Prinzip jedoch behält der Widerspruch mit Schwerpunkt, Diskussions- und Rezensionsteil die Dreiteilung des Heftes. Hinzu kommen auch Extraeinlagen: In diesem Heft laden wir dazu ein, Klassikerinnen feministischen Denkens (und solche, die es werden könnten) kennenzulernen. Auch den Diskussionsteil wollen wir in Zukunft etwas exibler gestalten. Dieses Heft debattiert die Zukunft der Altersvorsorge – schliesslich heisst unser Heft Widerspruch, und diese Tradition kontradiktorischer und dialektischer Debatte soll in Zukunft mit pointierten Meinungsartikeln weiter gepflegt werden.

Gleichzeitig zur Publikation des Heftes arbeiteten wir auch an einer neuen Website, die kurz nach Redaktionsschluss online gehen soll. Ohne unser Kerngeschäft – den Verkauf eines Printmediums – zu vergessen, werden wir vermehrt inhaltliche Beiträge auf der Website publizieren.

Die Redaktion hat zudem im Konsens entschieden, dass das Credo des Widerspruchs, «Beiträge zu sozialistischer Politik», auch im 21. Jahrhundert beibehalten wird. Wir sehen in der Debatte, was «sozialistische» Politik im 21. Jahrhundert bedeutet, weiterhin eine Stärke und ein Kerngeschäft unseres Hefts: Widersprüchlichkeiten aufzuspüren, sowohl innerhalb linker Politik wie auch in unserer Zeit des Interregnums, die von der kapitalistischen Durchdringung vieler Lebensbereiche, rassistischen und sexistischen Strukturen sowie autoritären Tendenzen geprägt ist. Wir ho en, mit dem Aufbruch des Widerspruchs auch aufbrechende linke Bewegungen, von Frauen*streiks über Klimabewegung zu globalen Demokratiebewegungen, mit intellektuellem Futter und Reflexion begleiten zu können.

Die Redaktion, im Februar 2020